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Pierre Christin (Foto: Rita Scaglia)

Max-und-Moritz-Preis 2010
Sonderpreis für das Lebenswerk

Legenden von heute und übermorgen
Pierre Christin

Pierre Christin, geboren 1938 bei Paris, ist einer der renommiertesten und kreativsten Autoren des zeitgenössischen Comics in Europa. Christin hat an der Sorbonne und am Institut d'études politiques studiert und mit "Le fait divers: littérature du pauvre" (Vermischtes: Literatur der Armen) seine Doktorarbeit geschrieben. Er hatte an der Universität Bordeaux gerade eine Professur angenommen und den Fachbereich Journalismus ins Leben gerufen (den er bis 2003 leitete), als Frankreich 1968 - vehementer als anderswo - den Zeitenwandel einer tiefgreifenden Liberalisierung erlebte, der vor allem in seinen frühen Alben deutlich aufscheint. Dass Christin dem Comic durch seine Arbeit immer wieder neue Impulse gegeben und dessen erzählerisches Repertoire entscheidend erweitert hat, mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass sein Interesse zunächst ganz anderen Themen galt und er eher zufällig, durch seinen Jugendfreund Jean-Claude Mézières, der zuvor bereits einige Comics gezeichnet hatte, in die Rolle des Szenaristen geriet.

Für Mézières schrieb Christin die Story um einen Raum-Zeit-Agenten, aus der schließlich - in Frankreich ein damals noch kaum verbreitetes Genre - die Science-Fiction-Reihe "Valerian und Veronique" entstand. Als 1968 in deren erstem Band die Welt im Chaos versinkt, steht in der Wirklichkeit Paris in Flammen: Studenten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, zehn Millionen Franzosen sind in den Streik getreten und zwingen die Regierung de Gaulles zu sozialen Reformen. Christin greift die Stimmung jener Zeit mit leidenschaftlicher Parteilichkeit auf und projiziert sie - spielerisch und satirisch überspitzt - auf die bizarren Fantasiewelten, die er zusammen mit Mézières entwirft; retrospektiv lassen sich die in den 1970er-Jahren entstandenen "Valerian und Veronique"-Geschichten heute wie eine Chronik der zentralen Themen der undogmatischen Linken lesen.

Christin findet Gefallen an der Gattung, die sich in der elektrisierten Atmosphäre nach dem Pariser Mai gerade von den üblichen Serien-Standards und Klischees befreit. Zusammen mit Enki Bilal beginnt er 1975 die "Légendes d'aujourd'hui" (Legenden von heute), in denen er mit dem Blick des Soziologen und Chronisten noch schärfer als bisher die Ereignisse der Zeit aufgreift und diese mit den Mitteln der Fantastik reflektiert. Neu ist vor allem aber auch, dass sich Christin mit den "Légendes" konsequent vom Prinzip der Serie abwendet und jedes Album als eine eigenständige, in sich geschlossene Erzählung konzipiert. Zum Meisterstück der Reihe wird schließlich der Band "Treibjagd", ein bitterer Abgesang auf die Utopie des Kommunismus, 1983 schon geradezu prophetisch noch vor der deutschen Wiedervereinigung, dem Kollabieren der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts erschienen.

Zusammen mit Annie Goetzinger beginnt Christin 1979 eine zweite Reihe nach dem Vorbild der "Légendes" unter dem Titel "Portraits souvenirs" (erinnernde Porträts), in denen - auch das ein Novum - in jedem Band das Schicksal einer Frau im Mittelpunkt steht. Hier beschäftigt sich Christin nicht mit Politik als kollektivem Erleben, sondern lässt politische Phänomene vielmehr in den Einzelschicksalen seiner Protagonistinnen sichtbar werden. Ebenfalls zusammen mit Goetzinger entsteht 2001 die Serie "Agènce Hardy" um eine Privatdetektivin im Paris der 1950er Jahre.

Mittlerweile hat Christin über achtzig Comic-Alben (u. a. auch für Fran¨ois Boucq, Jacques Ferrandez, Jean-Claude Denis, André Juillard, Max Cabanes) geschrieben und ist damit einer der produktivsten und vielseitigsten Szenaristen in Europa. Darüber hinaus hat er für den Film und das Theater gearbeitet und sechs Romane veröffentlicht. "Valerian und Veronique", die heute wohl einflussreichste europäische SF-Reihe, mit der vor über vierzig Jahren alles begonnen hat, hat er in diesem Jahr mit Band 21 zu einem spektakulären Abschluss gebracht.

Seit Jahren schon wird Pierre Christin auch als einer der heißesten Kandidaten für den Grand Prix in Angoulême (Festival de la Bande Dessinée) gehandelt. Traditionsgemäß - nicht einmal Asterix-Autor René Goscinny wurde dort ausgezeichnet - stehen bei diesem französischen Festival allerdings die Zeichner stärker im Mittelpunkt als die Szenaristen. Hier nimmt die Jury des "Max und Moritz"-Preises bewusst eine andere Gewichtung vor: Denn wenn man den Comic als "gezeichnete Literatur" verstehen will, was wäre er dann ohne seine Autoren?


Plakette Max-und-Moritz-Preis  

       

       

 

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